Nine - Abraxas Musical Akademie, München
„Maury Yestons ‚Nine‘, wirklich? – Ganz schön mutig.“ Das war meine erste Reaktion, als ich vom diesjährigen Abschlussprojekt der Abraxas Musical Akademie erfuhr. Das 1982 uraufgeführte Broadway-Musical ist schon recht „sophisticated“ und die deutschsprachige Erstaufführung 1999 am Berliner Theater des Westens, die letzte Produktion der Ära Helmut Baumann, war in ihrer Opulenz ziemlich unglücklich ausgefallen. Nun, zumindest ein ähnlich überladenes Spektakel war bei den Abraxas-Aufführungen nicht zu befürchten – weder der Schuletat noch das als Spielort gewählte kleine Münchner Off-Broadway Musicaltheater geben das her. Aber Reduktion ist ja nicht zwangsläufig das Schlechteste, und sie war es auch hier nicht – erstaunlicherweise auch nicht musikalisch. Natürlich klingt Yestons Partitur mit großer Besetzung eindrucksvoller, aber die Umsetzung lediglich mit Klavier (Paul Graham Brown) und Cello (Sven Ahnsjö) erwies sich in dem kleinen Rahmen als sehr stimmungsvoll und klappte perfekt.
Brown hatte nicht nur die musikalische Leitung inne, sondern er führte auch Regie. Dabei diente ihm der gesamte Theaterraum als Bühne. An den Längsseiten saßen in jeweils zwei Stuhlreihen die Zuschauer, dazwischen agierten ‚Nine‘-Titelheld Guido Contini und „seine“ Frauen. Die hatte Toralf Vetterick (einer der Schulleiter) allesamt rot und rollengerecht passend ausgestattet; Haute Couture hatte man nicht erwartet und vermisste sie auch nicht. Alles in allem glückte hier eine Produktion, die sich als Grundlage für eine größere Realisierung außerhalb einer Schulaufführung empfiehlt. Natürlich waren auch Abstriche zu machen und nicht alle Absolventinnen würden gleich in ihrer Rolle auf dem freien Theatermarkt besetzt werden. Ramona Ohmayer (besonders am Schluss sehr intensiv als Luisa Contini), Nina Steils (Claudia Nardi), Christina Miller (Liliane La Fleur) und Sarah Beilicke (Sarraghina) müssen aber doch hervorgehoben werden, ebenso wie Verena Eckertz, die Guidos Geliebte Carla Albanese ganz wunderbar traf.
Thorsten Schilling als Guido Contini ist vermutlich einfach zu jung, um alle Facetten des Starregisseurs mit Ideenblockade sichtbar zu machen und ihm markantes Profil zu geben. Schilling legte sich jedoch mächtig ins Zeug und bot durchaus eindrucksvolle Momente, insbesondere im Zusammenspiel mit seinem Alter Ego im Knabenalter (in der besuchten Vorstellung Moritz Renner). Mit Feuereifer bei der Sache waren auch die Schüler der unteren Jahrgänge und es imponierte sehr, wie gut die nicht leichten mehrstimmigen Chöre gelangen („The bells of St. Sebastian“, „The Grand Canal“). Hatte Anfang des Jahres die Filmversion von ‚Nine‘ trotz illustrer Starbesetzung enttäuscht, bereitete diese kleine, ambitionierte Produktion, die am 22. Juli 2010 Premiere feierte, wirklich Vergnügen.
Midlife-Musical in München - Nine von der Abraxas Musical Akademie
Italien um 1960, Guido Contini, ein italienischer Filmemacher, befindet sich mitten in seiner persönlichen Midlife- und Schaffenskrise. Gleichzeitig liegt seine Ehe mit Luisa in Scherben, die seine zahlreichen amourösen Eskapaden alles andere als angenehm findet. Das Paar fährt in ein Spa, einen Erholungs- und Kurort in der Nähe von Venedig, um Guidos Kreativität und das Eheversprechen wiederzufinden. Jedoch suchen Guido in der Entspannung die Frauen seines Lebens heim: Ob seine Produzentin Liliane mit einem Musicalfilm an alte Erfolge anknüpfen will, seine Geliebte Carla die Trennung von seiner Frau fordert, die Geliebte Claudia mehr sein will als seine Muse, oder seine Mutter ihm als Engel erscheint. Schließlich klären Kindheitserinnerungen sein Verhalten auf, denn alle Frauen waren für ihn Inspiration. Mit diesem Wissen dreht er den autobiographischen Kinostreifen über die Geschichte Casanovas – mit allen Damen in der Besetzung – und sieht erst so, wie brutal er jede Einzelne als Inspiration missbraucht hat. Der Film wird ein Fiasko, alle Frauen verlassen ihn und er ist dem Selbstmord nahe, als ihn sein jüngeres Ich ermahnt, erwachsen zu werden.
Die Absolventen der Abraxas Musical Akademie schaffen es unter dem Regisseur und Pianisten Paul Graham Brown spielend, „Nine“ Leben einzuhauchen. Große Tanznummern im Revuestil – Choreographien von Benjamin Schobel – scheinen ebenso leicht zu fallen wie die gut intonierten Ensemblestücke „Kyrie eleison“ oder „Auf dem Kanal“, die mit harmonischem, vollem Klang mehrstimmig gesungen werden. Die Inszenierung im urigen Gewölbe des Off-Broadwaytheaters München ist abwechslungsreich mit guten Spotlights auf die vielen Hauptdarsteller, die nahezu ebenbürtig nebeneinander stehen. Licht und Bühnenbild stehen eher im Hintergrund, dafür punkten die Münchner mit tollen Ideen im Kostümbereich (Toralf Vetterick).
Als herausragend kann die schauspielerische und sängerische Leistung von Nina Steils als Claudia bezeichnet werden. Ihr „Ein Mann wie Du“ und „Auf besonders unübliche Art“ erzeugen Gänsehaut, und die gefühlvolle Interpretation wird mit Szenenapplaus belohnt. Die Darstellerin verdeutlicht die Entwicklung ihrer Figur vom süßen Filmsternchen zur gestandenen Frau. Ramona Ohmayer spielt Continis Ehefrau Luisa überzeugend stolz und zeigt viel Emotion in ihrer Mimik. Verena Eckertz gibt der Carla eine glasklare Mezzosopranstimme, die gern anrüchiger hätte klingen können. Als Produzentin Liliane überrascht Christina Miller mit ihrer überzeugenden Rollenaffinität und ihrem Talent für eine intelligente Komik. Besonders ihr Auftritt im meterhohen Sambakostüm macht Eindruck. Eine weitere Stärke liegt eher in den tieferen Gesangslagen. Pure Wärme in Spiel und Stimme verbreitet auch Sandra Schwab als Guidos Mutter, während Sarah Beilicke die Hure Saraghina verführerisch und mit angenehmer Singstimme mimt. Thorsten Schilling glänzt durch Spielfreude und zeigt mit seinem tragischen Solo am Ende des Stücks gesangliche Qualität. Jedoch liegt er stimmlich Lord Maxim de Winter („Rebecca“) näher als einem gestandenen, italienischen Mann.
„Nine“ von der Abraxas Musical Akademie erfreut durch ein durchweg gutes Ensemble, das tontechnisch völlig unverstärkt ein in sich rundes, wertvolles Stück präsentiert. Allein ein Paul Graham Brown am Piano und ein Cellist begleiten die Stücke. Große Bilder wie das Schiff auf dem Kanal, mit dem ganzen Ensemble als Wellen, wirken in dem kleinen Theater ebenso eindrucksvoll wie die humorvolle Gegenüberstellung von deutschen Kurtouristen und italienischen Verführerinnen. Hier trifft Sauerkraut auf Carpaccio, Marschschritt auf Tarantella.
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